Magisch zieht es mich zu dem Tisch am Fenster. Ist es der Sydney Morning Herald, hinter dem sich ein Mittvierziger versteckt? Mit meinen Lieblingszeilen aus dem Gedicht ‚My Country‘ der Autorin Dorothea Mackeller begrüße ich den Unbekannten: „I love a sunburnt country, A land of sweeping plains, Of ragged mountain ranges, Of droughts and flooding rains …“.
Der Mann legt die Zeitung zur Seite: „Mir gefallen besser die Zeilen aus ‚My Sunburnt Country‘ vom Aborigine-Poeten Archie Weller: ‚Why do you say you love this country when you rape my mother?“
Irritiert greife zur Tasse und nippe an der österreichischen Kaffeespezialität. Wir plaudern über meine Tätigkeit als Autor. Professor Wisenheimer erzählt, er verbringt als beratender Wissenschaftler einige Monate in Europa. Gerade kommt er aus der slowenischen Hauptstadt Bratislava – nur 50 Kilometer vom Flughafen Schwechat entfernt: „Bald geht’s in die australische Heimat zurück. Nenn mich bitte Ron“, beendet er den Smalltalk.
Dann legt der Australier los: „Wir sind Weltmeister beim Abbau von Kohle, Erzen und weiteren Rohstoffen. Die Mining-Industrie hat unser Land reich gemacht. Der Bergbau hat drastische Auswirkungen auf die Umwelt.“
Um meinen Sachverstand zu demonstrieren, füge ich ein: „Derzeit werden die Umweltgefahren der Carmichael-Kohlemine in Queensland diskutiert. Viele befürchten negative Effekte selbst für das Great Barrier Reef.
Ron: „Ich beschäftige mich mit den Folgeschäden des Bergbaus. Ob in der Pilbarra-Region oder im Hunter Valley – überall hinterlässt die Mining-Industrie Spuren. Häufig werden Umweltkatastrophen verharmlost oder vertuscht.“
„Ein Beispiel ist sicher die Stadt Wittenoom in Westaustralien“, ergänze ich. „Jahrelang wurde dort Asbest abgebaut. 2008 erklärten die Behörden, dass sich die Region für keine Form menschlicher Tätigkeit oder Landnutzung eignet. Heute ist Wittenoom eine Geisterstadt. Der Name wurde von Schildern und Karten entfernt.“
Der Professor lächelt spitzbübisch: „Ich glaube, wir verstehen uns! Ich nenne solche Gebiete ‚No-Go-Places‘. Mein Schwerpunktthema sind radioaktiv verseuchte Plätze.“
Auf meinen zweifelnden Blick reagiert Ron: „Nimm das Beispiel die Timor-See, das Meer zwischen der Nordküste Australiens und Indonesien. 1956 zündeten die Briten auf der Inselgruppe Montebello ihre erste Atombombe. Die Inseln Alpha und Tremmoine sind seitdem Sperrgebiet. Heute wird die Region unter dem wohlklingenden Namen ‚Montebello Marine Park‘ für Taucher vermarktet.“
Ein wenig verblüfft gebe ich zu: „Von den Atomtests der Briten habe ich bisher wenig gehört. Durch die Weltpresse gingen lediglich die französischen Tests auf dem Muroroa-Atoll im Südpazifik.“
Der Australier winkt ab: „Die weiteren britischen Tests fanden in Maralinga statt. Die Ureinwohner wurden mit 11 Millionen Dollar abgefunden. Heute werden Touristentouren zur Besichtigung dieses No-Go-Places angeboten.“
Ich greife zum Notizblock: „Wo liegt Maralinga?“
„Den Ort findest du am westlichen Rand des Woomera Prohibited Area – etwa 1.000 Kilometer nordwestlich von Adelaide. Das WPA ist vergleichbar mit dem Area 51 in den USA – nur alles ein wenig größer. Das Gelände entspricht der Fläche von Österreich und der Schweiz. Getestet wird dort alles, was das Militär benötigt: Lang- und Kurzstrecken-Raketen, Drohnen, Waffen…“
Ich erinnere mich: „Auf dem Stuart-Highway von Port Augusta nach Coober Peedy gab es Schilder: ‚This Road is Part of a Prohibited Area under Defence Forces Regulation ... Travellers are not permitted to deviate…‘. Aber von Radioaktivität habe ich nichts gelesen.“
Der Professor grient: „Hoffentlich hast du dich an die Anweisung gehalten. In der Gegend sollen viele Dinge herumliegen, die leicht explodieren.“
Ich grinse zurück: „Um ehrlich zu sein, bin ich nicht auf die Idee gekommen auszusteigen – zumal ich nicht wusste, wie riesig das Sperrgebiet ist. Zudem glaubte ich bisher, Pine Gab sei das größte Militärgeheimnis Australiens.“
Ron: „Du meinst die amerikanische Spionage-Station 18 Kilometer südöstlich von Alice Springs?“
„Genau die“, nicke ich. „dort sollen 800 US-Agenten in bis zu acht Stockwerken unter der Erde arbeiten …“
Der Aussie winkt ab: „Netfix hat das Thema Pine Gab verfilmt. So spannend fand ich die Serie nicht.“
Ich hake nach: „Angeblich gibt es dort Abhörstationen mit der die ganze Welt belauscht wird…“
Der Australier gähnt: „Mit Militär und Geheimdiensten kenne ich mich nicht aus. Wenn du dich für derartige Dinge interessierst, wirst du im Northern Territory genug Material finden. Auf dem Weg in Richtung Norden gibt’s kurz vor der Garnisonsstadt Katherine die wichtigsten Verteidigungseinrichtungen unserer Luftwaffe – Tindal Airbase.“
Ich schaue überrascht: „Leben in Katherine nicht überwiegend Ureinwohner.“
Ron: „Mehr als ein Viertel von den 6.000 Einwohnern in der Region arbeiten wohl fürs Militär. Doch damit nicht genug: Nach einem Abkommen mit den Amerikanern wurden im Northern Territory 2000 US-Marines zusätzlich stationiert. Unter anderem nutzen sie das Trainings-Gelände Mount Bundey zwischen Mary River und dem Kakadu-Nationalpark auf einer Fläche größer als Island.“
Erstaunt hake ich nach: „Ist das der Grund, warum viele Straßen im Northern Territory so schwer zugänglich sind? Die Old Jim Road konnte ich nicht befahren. Für den Arnhem Land-Besuch braucht man ein spezielles Visum...“
Ron beruhigt mich: „Soviel ich weiß, hat das auch etwas mit den Landrechten der Ureinwohner zu tun. Doch wir kommen vom Thema ab: Die eigentlichen Missstände dort oben kannst Du mit dem Stichwort ‚Uranabbau‘ zusammenfassen.“
Entschuldigend schaue ich Ron an: „Du weißt, Deutschland ist aus der Atomkraft ausgestiegen!“
Mitleidig lächelt der Professor: „Australien hat noch nie ein Atomkraftwerk kommerziell betrieben. Aber weltweit sind 400 Kraftwerke im Betrieb und 79 neue im Bau – davon allein 30 in China, 20 in Russland und neun in Japan. All diese Reaktoren benötigen Uran! Und davon hat Australien reichlich!“
Ich versuche einzulenken: „Solange es noch keine Lösung für den Atommüll gibt…“
Wisenberger reagiert gereizt: „Mich interessiert weniger der Müll, den die Atomkraftwerke produzieren. Ich sorge mich um die Altlasten, die beim Abbau des Rohstoffs ‚Uran‘ entstehen!“
„Du spielst auf die Probleme der ‚Ranger Mine‘ an? Seit Jahren berichtet die Presse über dortige Umweltvorfälle. Konterminiertes Wasser lief in die Flüsse des Kakadu-Nationalparks. Aber 2021 wird die Mine wohl dicht gemacht.“
Ron: „Und was geschieht dann? Erst danach beginnt doch das Problem! Nimm zum Beispiel das Uranbergwerk mit dem klangvollen Namen ‚Rum Jungle‘ 100 Kilometer südlich von Darwin. Die Mine wurde 1971 geschlossen - die erhöhte Gammastrahlung und Radioaktivität blieben. Nachdem Wasser in die Grube lief, nutzten Einheimische und Touristen den See als Erholungsgebiet …“
Ich halte dagegen: „Seitdem wurde doch sicher viel unternommen, um die Kontaminierung zu beseitigen.“
Der Professor: „Die gleiche Frage wirst du sicher auch bei der Nabarlek-Mine stellen.“
Ich gebe zu, dass mir der Name Nabarlek nicht geläufig ist und Ron erklärt: „Diese Uranmine liegt im Arnhem Land – 60 Kilometer entfernt von Jabiru. Das Erz dort ist so radioaktiv, dass die Arbeiter Schutzkleidung tragen mussten und die Arbeitszeiten reglementiert wurden. 1995 wurde die Mine geschlossen …“
Abrupt schaut der Australier auf die Uhr: „Wenn ich mich jetzt nicht beeile, verpasse ich mein Flugzeug.“
Im Rausgehen ruft Ron mir zu: „Falls du mich zitierst, nenne mich einfach Professor Wisenheimer!“
Irritiert trinke ich den letzten Schluck meiner Melange. Beim Surfen auf dem Laptop finde bei world-nuclear.org:
‚1970 wurde Nabarlek, eine kleine hochgradige Uranlagerstätte innerhalb von Arnhem Land, 15 Kilometer östlich von Oenpelli entdeckt. Es wurde eine Vereinbarung mit dem Northern Land Council und den Aborigines getroffen … 1979 eröffnete die Mine … Insgesamt wurden 10.858 Tonnen Uranoxid (U3O8) und von 1981-88 nach Japan, Finnland und Frankreich geliefert … Ein Teil der Anlage wurde 1994 verkauft. Vor dem Abtransport wurde sie nach sehr strengen Standards chemisch und radiologisch gereinigt und dekontaminiert. Der Rest wurde demontiert und in der Grube vergraben, zusammen mit den Abraumhalden und Gebäudefundamenten … Eine Schicht aus Abraumgestein wurde als erosionssichere Abdeckung auf die Oberfläche aufgebracht. Mutterboden vervollständigte die Erdarbeiten zur Gestaltung des Geländes. Das gesamte Gebiet wurde dann mit einer Mischung aus Gras und einer breiten Palette einheimischer Arten eingesät …‘.
Mit dem Gedanken: „Na, dann stimmt das Redensart ‚lass Gras darüber wachsen‘ ja doch!“, begebe ich mich zum Abfluggate. Beim Flug nach Hamburg fällt mir ein: ‚Wisenheimer? – das heißt doch auf Deutsch Klugscheißer!“